- Kriegsverbrechen: Prozesse zur Durchsetzung des Rechts
- Kriegsverbrechen: Prozesse zur Durchsetzung des RechtsDie ersten Kriegsverbrecherprozesse fanden nach dem Ersten Weltkrieg vor dem Reichsgericht in Leipzig statt. Deutschland hatte sich im Versailler Friedensvertrag verpflichtet, alle der Begehung von Kriegsverbrechen Beschuldigten auszuliefern, an der Spitze den nach Holland geflohenen Kaiser Wilhelm II. Ihm geschah nichts, da sich sein Gastland auf das Asylrecht berief. Daraufhin erreichte die Weimarer Republik einen Kompromiss: Sie durfte die Strafverfolgung selber in die Hand nehmen. Das Ganze geriet zur Farce. Nur zwölf der insgesamt 896 Beschuldigten wurden ab 1921 angeklagt und nur sechs zu kurzen Freiheitsstrafen verurteilt.Im Zweiten Weltkrieg wappneten sich die Sieger schon frühzeitig gegen einen ähnlichen Misserfolg. Am 1. November 1943 vereinbarten die Sowjetunion, die Vereinigten Staaten von Amerika und Großbritannien in Moskau, deutsche Kriegsverbrecher in den Ländern abzuurteilen, in denen sie ihre Taten begangen hatten. Ausgenommen von dieser Regelung blieben die »Hauptkriegsverbrecher« aus Deutschland, Italien und Japan. Die maßgebenden westlichen Politiker waren willens, mit ihnen kurzen Prozess zu machen. Entweder sollten sie weltweit geächtet und beim Ergreifen auf der Stelle getötet werden oder nach einem Standgericht im Morgengrauen erschossen werden. Der sowjetische Diktator Stalin hingegen plädierte für ein Tribunal, damit man den alliierten Führern keine Rachegelüste gegenüber ihren Feinden nachsagen konnte. Aber erst bei Kriegsende, während der Gründungskonferenz der Vereinten Nationen, einigte man sich auf einen rechtsstaatlichen Prozess.Das Nürnberger TribunalAm 8. August 1945 - an diesem Tag wurde die Atombombe über Nagasaki gezündet - unterzeichneten Vertreter von 23 Staaten das Londoner Abkommen über die Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher. Beigefügt war das Statut des Internationalen Militärtribunals. Der Name wurde gewählt, weil die vier Besatzungszonen in Deutschland von Militärregierungen verwaltet wurden. Alle Richter der vier Siegermächte waren jedoch Zivilisten. Das erste »Weltgericht« der Geschichte trat am 20. November 1945 im Nürnberger Justizpalast zusammen. Dies war die Stunde des amerikanischen Hauptanklägers Robert H. Jackson. Der ehemalige Bundesrichter und liberale Demokrat ist der eigentliche Schöpfer des neuen, revolutionären Völkerrechts. Bewusst missachtete er die alte Rechtsregel »nulla poena sine lege«, nach der niemand für eine Tat bestraft werden darf, die zur Tatzeit noch nicht im Strafgesetzbuch stand. Die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes waren so ungeheuerlich und einzigartig, dass ihnen auch das Ausmaß der Sühne entsprechen musste.Von den vier Anklagepunkten gingen drei über die immer noch gebräuchliche Pauschalbezeichnung »Kriegsverbrechen« weit hinaus. Mit dem ersten Punkt »Verschwörung gegen den Frieden« war die Vorbereitung zum Angriffskrieg gemeint. Nachdem sich die obersten Übeltäter des Dritten Reichs, Adolf Hitler, Heinrich Himmler und Joseph Goebbels, ihrer Verantwortung durch Selbstmord entzogen hatten, war der angelsächsische Rechtsbegriff »Verschwörung« (conspiracy) unerlässlich, damit man wenigstens die Führungsgehilfen und Schreibtischtäter belangen konnte. Auf der Anklagebank saßen, angeführt von Hermann Göring, dem zweitmächtigsten Mann im Staate, hohe Offiziere und Minister neben Gauleitern, Bürokraten und Propagandisten.Der zweite Anklagepunkt betraf »Verbrechen gegen den Frieden«, also die vorsätzliche und planmäßige Entfesselung von Kriegen, den Bruch internationaler Verträge und die Erpressung eines schwachen Landes durch militärische Bedrohung. Der dritte Punkt summierte unter dem Oberbegriff »Kriegsverbrechen« Geiselerschießungen, Gefangenenmord, das Prinzip »Verbrannte Erde«, Ausplünderung, Deportation von Zwangsarbeitern wie auch den systematischen Raub von Kulturgütern. Den Schluss bildete der vierte Punkt »Verbrechen gegen die Menschheit«: unterschiedslose und systematische Zerstörung von Leben und Freiheit, wie millionenfacher Mord mittels Massenexekutionen, in Vernichtungslagern, durch Verhungern. Das englische Wort humanity, »Menschheit«, wurde 1945 übrigens falsch mit »Menschlichkeit« übersetzt. Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Hannah Arendt mokierte sich über das »Understatement des Jahrhunderts«.Nach zehn Monaten wurde in Nürnberg das Urteil verkündet. Für elf der 21 anwesenden Angeklagten lautete es auf Tod durch den Strang, drei wurden freigesprochen; Hermann Göring entzog sich der Hinrichtung durch Selbstmord. Als Abschreckung für Militärs in künftigen Kriegen mochte die Kunde dienen, dass auch ein Generalfeldmarschall und ein Generaloberst gehängt wurden. Nach dem Willen Jacksons sollte das neue Recht für Sieger und Besiegte gleichermaßen gelten. Noch war dies eine Utopie, denn das Nürnberger Tribunal wollte einzig über deutsche Verbrechen verhandeln. Der erste Prozess setzte Maßstäbe für die zwölf Folgeprozesse vor einem amerikanischen Militärgerichtshof. Nachhaltig war die Wirkung des Ärzteprozesses (»Medizin der Unmenschlichkeit«), des Juristenprozesses (»Der Dolch der Mörder war unter der Robe des Juristen verborgen«) und der Verfahren gegen Industrielle (Flick, Krupp, IG-Farben), die die Arbeitskraft von Kriegsgefangenen, Deportierten und KZ-Häftlingen ausgebeutet hatten.Nach dem Nürnberger Modell verlief auch der Prozess gegen die japanischen Kriegsverbrecher, der am 3. Mai 1946 in Tokio begann und zweieinhalb Jahre dauerte. Vor dem »Internationalen Militärtribunal für den Fernen Osten«, dem Richter aus elf Staaten angehörten, mussten sich 28 Männer verantworten. Es gab sieben Todesurteile: Gehängt wurden fünf Generäle und zwei Regierungschefs, Hirota Koki wegen des Krieges gegen China und Tojo Hideki wegen des Überfalls auf Pearl Harbor.Der lange Weg zum Internationalen StrafgerichtshofDie Nürnberger Prinzipien wurden Teil des Völkerrechts und auch ins Grundgesetz der Bundesrepublik übernommen. Neu hinzu kam 1948 das Völkermordabkommen, das jede Handlung unter Strafe stellt, die aus nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gründen darauf abzielt, eine Menschengruppe ganz oder teilweise zu vernichten. Die umfangreiche Dokumentation aus dem Nürnberger Geiselprozess gegen ehemalige Militärbefehlshaber auf dem Balkan veranlasste die UNO, 1949 die Genfer Rotkreuz-Konventionen neuzufassen, da die Haager Landkriegsordnung den modernen Formen der Guerilla nicht mehr genügte. Deutlich verbessert wurde der Schutz verwundeter oder kranker Soldaten, gleich ob sie einer regulären Armee oder einer Widerstandsbewegung angehören. Geächtet wurde auch die Misshandlung von wehrlosen Zivilisten und hilflosen Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen.Seit Beginn des Koreakriegs 1950 hemmte der Kalte Krieg die Fortentwicklung des Nürnberger Rechts auf Jahrzehnte. Die Großmächte verzichteten auf ihre Schrittmacherposition, denn alle hatten selbst gegen den Geist von Nürnberg gesündigt: Amerika in Kuba und anderen Karibikstaaten, Frankreich in Indochina und, gemeinsam mit Großbritannien und Israel, in Ägypten, Russland in Ungarn. Oder sie schürten Stellvertreterkriege im Nahen und Mittleren Osten, in Afrika und Asien. Massenmorde wie in Indonesien, Biafra und in Kurdistan blieben ungesühnt. Telford Taylor, ehedem amerikanischer Ankläger in Nürnberg, sprach von einer »amerikanischen Tragödie in Vietnam«, da sich der Staat als unfähig erwiesen habe, die Rechtsgrundsätze von 1945 auf sich selbst anzuwenden.Erst als 1990 der Ost-West-Konflikt aufhörte, durfte die geplagte Menschheit wieder hoffen. Im Auftrag des Weltsicherheitsrats begannen 1993/94 Sondergerichte zu arbeiten. Das Tribunal in Aruba hat 35 Mittäter des Völkermords in Ruanda angeklagt. Das Tribunal in den Den Haag führt Prozesse gegen Kriegsverbrecher, die sich bei den »ethnischen Säuberungen« im bosnischen Bürgerkrieg brutal gegen Menschenrechte vergangen haben. Am 17. Juli 1998 schließlich haben 120 Staaten in Rom das Statut eines neuen Weltstrafgerichtshofs unterzeichnet. Einige Mächte, darunter auch die Vereinigten Staaten, enthielten sich, weil sie möglichen Bestrafungen ihrer Truppen vorbeugen wollen. UNO-Generalsekretär Kofi Annan feierte einen »historischen Sieg«.Dr. Karl-Heinz Janßen
Universal-Lexikon. 2012.